MEHR ALS JEDE:R DRITTE VERMUTET HÄUSLICHE GEWALT IM EIGENEN UMFELD
- Gut die Hälfte der Bevölkerung hält Auseinandersetzungen in der Partnerschaft für Privatsache.
- Gespaltene Einstellung bei Schuldfrage: Rund ein Fünftel der Deutschen sehen die Schuld für häusliche Gewalt nicht ausschließlich beim Täter.
- Mehr als jede:r Dritte vermutet häusliche Gewalt im eigenen Umfeld.
Eine Umfrage der Initiative #DieNächste gegen häusliche Gewalt zeigt, dass bei häuslicher Gewalt in Beziehungen die Schuld in vielen Fällen nicht ausschließlich den Tätern zugeschrieben wird. Nur 57% der Befragten stimmen der Aussage zu, dass bei häuslicher Gewalt die Schuld immer beim gewalttätigen Partner liegt. Ein Viertel der Befragten ist unentschlossen, 18 Prozent lehnen die Aussage ab. Deshalb startet #DieNächste im Sommer eine Bewusstseinskampagne.
Häusliche Gewalt gegen Frauen hat in den letzten Jahren in Deutschland deutlich zugenommen. Laut den Innenministerien und Landeskriminalämtern der 16 Bundesländer wurde im Jahr 2022 sogar ein Anstieg um 9,3 Prozent gegenüber dem Pandemiejahr 2021 verzeichnet. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes erleidet alle 4 Minuten eine Frau häusliche Gewalt. Die meisten Taten bleiben jedoch dort, wo sie stattfinden: im verborgenen, privaten Bereich. Denn die Dunkelziffer wird deutlich höher als die zur Anzeige gebrachten und registrierten Fälle geschätzt. Viele Betroffene erstatten keine Anzeige aufgrund realer Risiken, Scham, Schuldgefühlen und fehlender Unterstützung. Die drei ehemals von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen Sarah Bora, Iris Brand und Anna Sophie Herken haben daher die Initiative #DieNächste gegen häusliche Gewalt gestartet, um Klischees zu häuslicher Gewalt abzubauen, Mut zu machen und gesellschaftliche sowie politische Veränderungen herbeizuführen.
Gemeinsam mit Civey, dem Berliner Tech-Unternehmen für digitale Meinungsforschung, hat #DieNächste nun eine Kurzstudie¹ in der deutschen Bevölkerung durchgeführt. Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass zwar ein generelles Verständnis über die Existenz unterschiedlicher Formen häuslicher Gewalt besteht, jedoch wird sie häufig als Privatsache und nicht als ein Problem im eigenen Umfeld der Befragten angesehen. Rund die Hälfte der Deutschen (48 Prozent) ist zudem der Auffassung, Auseinandersetzungen in der Partnerschaft gingen nur die Beteiligten etwas an. Erschütternd ist das Ergebnis, dass die Schuld bei Gewalt tatsächlich von rund jeder und jedem Fünften nicht ausschließlich bei den Tätern gesehen wird.
JEDE:R ZWEITE SIEHT ZUSAMMENHANG ZWISCHEN SOZIALER HERKUNFT UND AUFTRETEN HÄUSLICHER GEWALT.
Häusliche Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das sich durch alle gesellschaftlichen Gruppen zieht. Faktoren wie Herkunft, Bildung, Einkommen, Alter, Religion oder finanzielle Situation spielen keine Rolle.² Laut der Erhebung von Civey vermutet jedoch rund jede:r Zweite einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem Auftreten häuslicher Gewalt. Iris Brand erklärt: „Bei häuslicher Gewalt denken die meisten Menschen nicht an Personen, die ihnen ähnlich sind. Lieber drängt man das Problem an den gesellschaftlichen Rand. So ist es leichter, sich nicht damit auseinanderzusetzen, dass man eventuell Freunde, Bekannte und Kollegen hat, die Täter sind.“ Sarah Bora ergänzt: „Besonders im eigenen Umfeld möchte niemand mit häuslicher Gewalt konfrontiert sein, das Thema wird beschwiegen. Fakt ist jedoch: Niemand ist davor sicher, Opfer häuslicher Gewalt zu werden.“
DIE GESELLSCHAFT SCHWEIGT UND FÖRDERT DIE TÄTER-OPFER UMKEHR.
Knapp die Hälfte der Befragten hält Auseinandersetzungen in einer Partnerschaft für Privatsache. Dieses Ergebnis bestätigt, dass häusliche Gewalt in der Gesellschaft mit einem Tabu belegt ist, da es vermeintlich niemanden außer die Beteiligten etwas angeht. Anna Sophie Herken konstatiert: „Die Menschen hüllen sich in Schweigen und verleugnen, dass es sich bei häuslicher Gewalt um ein gesamtgesellschaftliches und strukturelles Problem handelt. Das ist aber nichts Privates, sondern betrifft uns alle.“ Fast ein Fünftel aller Befragten verneint sogar, dass die Schuld ausschließlich beim Täter liegt. „Die Zahlen zeigen das Phänomen des sogenannten „Victim Blaming“ deutlich auf: entweder wird den Opfern nicht geglaubt oder es wird ihnen eine Mitschuld gegeben. Dabei liegt die Verantwortung einzig beim Täter. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist Unrecht und muss ein Ende haben.“, fordert Iris Brand.
KLARE FORDERUNGEN AN GESELLSCHAFT UND POLITIK.
Den Initiatorinnen ist es ein Kernanliegen, das Thema häusliche Gewalt in der Gesellschaft zu enttabuisieren, so dass Betroffene nicht mehr vor Scham in der Gewaltspirale bleiben. Durch die bundesweite Kampagne, die im August startet, möchte #DieNächste ein breites öffentliches Bewusstsein dafür schaffen, dass Gewalt in der Partnerschaft inakzeptabel ist und jede:r in der Pflicht steht, sich für die Sicherheit seiner Mitmenschen stark zu machen. Aktuell bejaht lediglich jede:r Fünfte, dass er Menschen in seinem sozialen Umfeld schon einmal gefragt hat, ob sie sich in ihrer Partnerschaft sicher fühlen. Und das, obwohl mehr als jede:r Dritte sich vorstellen kann, dass in seinem sozialen Umfeld häusliche Gewalt stattfindet. Vor allem Menschen in ihrer Lebensmitte können sich vorstellen, dass Partnerschaftsgewalt in ihrem Umfeld existiert.
Anfang Juli wird der bundesweite Lagebericht über häusliche Gewalt von Bundesinnen- und Familienministerium sowie dem Bundeskriminalamt vorgestellt. Die Gegenüberstellung der Umfrage von #DieNächste und dem Lagebericht der Bundesregierung lässt Rückschlüsse über den enormen Aufklärungsbedarf in der Gesellschaft und den politischen Handlungsbedarf zu. Die Initiatorinnen fordern daher die konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention. Der Bericht der Bundesregierung soll nun valide Daten für die Ausarbeitung einer bundesweiten Gesamtstrategie gegen häusliche Gewalt liefern. „Wir müssen in Deutschland endlich die institutionellen Strukturen schaffen, um wirksam handeln zu können. Erst wenn speziell geschulte Gerichte sowie Staatsanwaltschaften existieren, die Polizei mit ausreichenden Ressourcen zum schnellen Schutz der Betroffenen ausgestattet ist und genügend Schutzunterkünfte existieren, können mehr Frauen die Risiken einer Strafanzeige auf sich nehmen und so eine Chance für eine gewaltfreie Zukunft erhalten,“ betonen die Initiatorinnen.
Janina Mütze, Geschäftsführerin von Civey, hebt hervor: „Damit sich mehr Menschen trauen, das eigene Umfeld zu konfrontieren, braucht das Thema mehr Sichtbarkeit in Politik und Medien – bei Gewalt darf niemand wegsehen. Wissen ist der erste Schritt zum Handeln, deshalb haben wir #DieNächste gern dabei unterstützt, mit Fakten die Lage in der Gesellschaft aufzeigen zu können. “ Die dazugehörige Webseite www.dienaechste.org und der Instagram-Kanal @dienaechste haben neben einem Forderungskatalog mit ihren Inhalten zum Ziel, über Anzeichen häuslicher Gewalt und über typische Täterstrukturen aufzuklären, um diese frühzeitig zu erkennen. Außerdem sollen Webseite und Instagram-Kanal Hilfsangebote für betroffene Frauen bündeln, die aktuelle juristische Lage darstellen und auch dem Umfeld Hilfestellung geben, um Betroffene bestmöglich zu unterstützen.